Die Stadt und ihre ungewisse Mauer (Rezension)
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Bist du ein Schatten oder lebst du dein Leben? Eine Frage, die sich mir nach dem Lesen von Murakamis Werk »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« unweigerlich stellt. Denn genau darum geht es in dem Roman. Jedenfalls, wenn ihr mich fragt. Doch halt, ich möchte gar nicht vorgreifen und das Ganze lieber noch einmal genauer aufschlüsseln und ein wenig vorsichtiger einleiten. Bevor wir also über die Bedeutung des Buches sprechen, müssen wir uns über die Handlung selbst verständigen.
Der Roman »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« ist nicht mein erster Murakami. Wie viele andere auch bin ich ein Serientäter. Zufällig stolperte ich damals über »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« und verschlang anschließend »Die Ermordung des Commendatore Band 1 & 2«. Beides herausragende Bücher. Nun sollten also weitere Werke von Murakami folgen. Das führte mich zu »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer«.
Warum? Weil Murakami für mich moderne Märchen schreibt. In seinen Romanen scheint alles möglich zu sein. Zugleich besitzen sie stets auch eine gewisse Tiefe, enthalten eine Art von Moral, fast schon wie bei einer Fabel, die dem ganzen Werk einen tieferen Sinn verleiht und viele schwergewichtige Aussagen leichtgängig mit den Worten vermengt. Ich mag das. Auch wenn mich »Honigkuchen« sowie seine anderen Kurzgeschichten und Erzählungen bislang durchweg enttäuschten, so blieben die Romane stets in positiver Erinnerung haften.
Vom Schatten und vom Traumlesen
In »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« geht es um einen imaginären Ort, in dem alles sehr ruhig, geregelt und somit in gewisser Weise auch behütet ist. Alles geht seinen gewohnten Gang und das jeden Tag aufs Neue. Das Leben hier erscheint zwar in gewisser Weise etwas trist zu sein, gleichzeitig bringt die Ruhe aber auch ein hohes Maß an Sicherheit mit sich. Der Ich-Erzähler erscheint in dieser so sonderbaren Stadt und muss nun, bevor er eintritt, seinen Schatten abgeben. Wortwörtlich. Und sogleich stellt sich die Frage, was ein Mensch ohne seinen Schatten überhaupt ist. Benötigt er ihn zum Leben? Funktioniert das Leben ohne Schatten überhaupt wie gewohnt? Doch der Protagonist des Romans verfolgt andere Ziele und gibt seinen Schatten daher bereitwillig ab.
Ohne Schatten im Schlepptau darf er die Stadt mit ihrer ungewissen Mauer betreten, doch ohne Schatten kann und darf er sie auch nie wieder verlassen. Dafür sorgt ein mächtiger Wächter, der seinen Schatten in eine Art Gefängnis sperrt und dafür sorgt, dass die Stadt niemand unbefugt betritt oder wieder verlässt. Aber auch die ungewisse Mauer spielt dabei eine Rolle, denn deren Struktur ist nicht festgesetzt, verändert sich laufend und lässt die Grenzen somit stark verschwimmen. Die Mauer ist ungewiss und scheint ein Eigenleben zu führen.
Trotz all dieser Merkwürdigkeiten ist der Erzähler froh, die Stadt betreten zu haben. Er ist glücklich hier. Vielleicht sogar ausschließlich hier. Nur hier trifft er die Frau wieder, in die er sich als Teenager unsterblich verliebt hat. Nur hier können sie endlich zusammen sein. Und das, obwohl nur er sich an sie und ihre Liebe erinnert. Für sie hingegen ist er ein Fremder.
Indem er Traumleser wird und seine Rolle in der so fremdartigen Stadt anerkennt, kann er gemeinsam mit ihr in einer alten Bibliothek arbeiten. Zusammen mit der Frau, nach der er sein ganzes Leben lang ganz gesucht hat, nur um sie hier, in der Stadt mit der ungewissen Mauer, endlich zu finden. Und so beginnt sein Leben ohne Schatten, dafür aber an der Seite dieser, für ihn, so einzigartigen Person.
Mit Geistern in der echten Welt
Außerhalb der Stadt erzählt Murakami eine vollkommen andere Geschichte. Nein, er erzählt dieselbe Geschichte, nur aus einem ganz anderen Blickwinkel und aus einer vollkommen anderen Situation heraus. Dort dreht sich alles um den Protagonisten, der dieser geheimnisvollen Stadt wieder entrissen wurde. Warum, wieso, weshalb? Ich möchte das an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel sei gesagt: Er kann nicht mehr ohne weiteres in die Stadt mit ihrer ungewissen Mauer zurückkehren. Wenngleich er es wollte, gelingt es ihm nicht. Als hätte er den Weg dorthin einfach vergessen.
Stattdessen versucht er, eine Art Verbindung zu finden. Zu der Frau von damals, zu der geheimnisvollen Stadt und zu einem anderen Leben, welches jedoch längst verloren zu sein scheint. Im Zuge der Ereignisse kündigt er seinen Job, zieht kurzerhand in eine Kleinstadt und bekommt, fast schicksalhaft, eine Stelle in einer alten Bibliothek. Fast so, wie in der Stadt mit der ungewissen Mauer. Der Leiter der Bibliothek scheint zudem nur auf ihn gewartet zu haben.
Es überrascht Leser von Murakami nicht besonders, dass der Bibliotheksleiter längst tot ist. Auch nicht, dass da noch andere Ebenen herrschen oder die Stadt und ihre ungewisse Mauer inzwischen von weiteren Personen, in diesem Fall einem kleinen Jungen, entdeckt worden sind. Dieser möchte ebenfalls in die Stadt und erhofft sich die Hilfe des Erzählers, der diesen Wunsch zwar versteht, aber selbst nicht weiß, wie er helfen kann. Schließlich wurde er selbst aus der Stadt verstoßen und weiß nicht, ob und wie er dorthin zurückkehren kann.
Meine Probleme mit dem Roman
Nun muss ich zugeben, dass ich meine Probleme mit der Schreibweise hatte. Nicht falsch verstehen! Ich mag Ich-Erzähler und habe damit keinerlei Probleme. Dennoch haftet der Schreibweise von »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« etwas Befremdliches an. Alles wirkt ein wenig entrückt. Zu weit entfernt. Teilweise erschien es mir recht künstlich erzählt und zugleich lückenhaft oder gar bruchstückhaft dargestellt. Von Anfang an wollte der Funke daher einfach nicht überspringen.
Vielleicht, weil Murakami hier alte Geschichten mit neuen verbindet, wie er selbst in seinem Nachwort berichtet. Was er dabei als passend beschreibt, empfand ich oft als sehr gegensätzlich. Die Stadt mit ihren Einhörnern und magischen Verwirrungen erschien mir selbst oft zu übertrieben und zu absurd. Oder aber schlichtweg nicht glaubhaft genug. Zumal es da einige Logiklücken gibt, die unerklärt bleiben, dem aufmerksamen Leser aber unweigerlich auffallen werden. Logiklücken in abstrakten Handlungen empfinde ich selbst als sehr störend, da sie mich aus meiner Fantasie herausreißen und mir aufzeigen, dass das alles eben doch keinen Sinn ergibt.
So dauerte es bei mir tatsächlich recht lange, fast exakt bis Seite einhundert, ehe »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« mich packte und ich endlich von mir aus mehr erfahren wollte. Stellenweise war es dennoch eintöniger und langatmiger als andere Romane von Murakami. Es plätschert häufig vor sich hin, bleibt bei vagen Andeutungen oder ist an anderer Stelle dann wieder direkt, aber wenig glaubwürdig. Es ist ein etwas komisches Buch, welches in vielen Teilen für mich nicht so schlüssig ist wie andere Romane von Murakami.
Mir machte »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« daher erst einmal Probleme. Es erzählt, wenn man so will, zudem drei unterschiedliche Geschichten, die künstlich zusammengefügt zu sein scheinen. Anders als Murakami es am Ende beschreibt, empfinde ich sie jedoch nicht als gelungen zusammengefügt, sondern künstlich verbunden, um nicht zu sagen gequetscht.
Leider kein Meisterwerk für mich
Eigentlich beschreibt es Murakami in seinem Nachwort schon selbst. »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« ist eine alte Geschichte, die erweitert und zu einem neuen Roman wurde. Nur, dass die Idee dennoch irgendwie alt wirkt. Die drei Teile des Romans unterscheiden sich auch stark voneinander. Wie drei unabhängige, aber ähnliche Geschichten, die in drei unterschiedlichen Jahrzehnten geschrieben wurden und jetzt gemeinsam einen Roman ergeben sollen.
Ich sagte anfangs bereits, dass ich kein Fan seiner Erzählungen und Kurzgeschichten bin. Vielleicht wirkt auch »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« im Großen und Ganzen eher wie eine solche. Zwar eine, die mittlerweile zu einem Roman verarbeitet wurde, die im Kern aber immer noch eher eine Kurzgeschichte ist. Und weil sie das ist, funktioniert sie nicht als Roman.
Am Ende hatte ich viel Stoff, über den ich nachdenken konnte und wollte, so ist es nicht. Gerade die Frage, ob man ein Schatten seiner selbst ist oder sein Leben überhaupt richtig lebt, war für mich die essenzielle Aussage des Buches. Es reizt mich, wenn solche Fragen aufgeworfen und verarbeitet werden. Wenn ich nach einem Buch erst einmal ein paar Tage benötige, um über das Gelesene nachzudenken und den Sinn zu entlarven. Wenn eben mehr drinsteckt, als nur eine Geschichte.
Gleichzeitig gab es aber auch endlos lange Stellen, die schlichtweg uninteressant waren. Abschnitte, in denen nichts passierte und ich mir auch, bei aller Liebe, nichts Sinnvolles dazu denken konnte. Außerdem dauerte es recht lange, bis ich im Buch angekommen war. Einhundert Seiten müssen schließlich erst einmal gelesen werden, wenn sie einen nicht sonderlich packen. Doch erst nach diesen einhundert Seiten funktionierte das Buch für mich. Ich empfehle also, dranzubleiben und weiterzulesen, denn es ist beileibe kein schlechtes Buch. Nur eben kein Meisterwerk.
Leser von Murakami haben mit »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« somit durchaus ihre Freude. Nur würde ich niemandem empfehlen, ausgerechnet mit diesem Buch anzufangen, wenn er Murakami bislang nicht kennt. Ich selbst musste mich durch einhundert Seiten quälen, ehe die Geschichte mich packte. Und selbst danach gab es noch Logiklücken und Längen, die mich störten. Für mich ist »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« deshalb zwar kein schlechtes, aber ganz sicher eines der schlechteren Bücher von ihm.