Geschichte für einen Augenblick (Rezension)
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Vor einiger Zeit las ich »Die leise Last der Dinge« von Ruth Ozeki und war überaus angetan von der Geschichte. Einzig und allein die vielen Abschweifungen störten mich nachhaltig, da das Buch dadurch meiner Meinung nach nur unnötig gestreckt wurde. Dennoch mochte ich die Schreibweise der Autorin und sicherte mir sofort nach Abschluss des Buches ihr nächstes Werk, nämlich »Geschichte für einen Augenblick«, auf meiner Leseliste.
Nach mehreren Murakami-Büchern, die ich zuletzt rezensierte, bin ich jetzt endlich einmal dazu gekommen, mich an »Geschichte für einen Augenblick« zu wagen. Ein viel interessanteres Buch als »Die leise Last der Dinge«, so viel sei bereits vorab verraten. Doch warum ist das so?
Was mich an »Geschichte für einen Augenblick« gereizt hat, warum ich das Buch für ein ganz wunderbares halte, es für mich am Ende jedoch kein Meisterwerk ist, möchte ich euch in meiner Rezension gerne näher erläutern. Wie immer alles subjektiv und direkt nach Beendigung des Buches geschrieben, um den ehrlichsten Eindruck wiedergeben zu können.
Drei Geschichten in nur einem Buch
In »Geschichte für einen Augenblick« geht es um eine japanische Teenagerin, die einen selbstmordgefährdeten Vater hat. Es geht um eine Nonne und ihren Sohn, der im Krieg Kamikazeflieger war, inzwischen jedoch verstorben ist. Und es geht um eine Schriftstellerin, deren Mutter dement wurde und die sich nun selbst große Sorgen macht, dass ihr Verstand auf ähnliche Weise enden könnte.
Drei Geschichten in einem Buch? Ja, so würde ich es tatsächlich formulieren, denn auch wenn alle drei Handlungsstränge natürlich stark miteinander verwoben sind, so handelt es sich doch um ganz eigenständige Geschichten, mit ganz unterschiedlichen Aussagen. Und die regen durchaus zum Nachdenken an, wie ich während des Lesens immer wieder feststellte.
Im Grunde geht es jedoch um den Tod. Um den Verfall. Aber somit unweigerlich auch um das Leben und darum, dass wir alle für uns selbst existieren und doch nur gemeinsam funktionieren können. Klingt alles etwas zu kryptisch? Mhhh. Moment, ich versuche mich mal etwas verständlicher auszudrücken.
Katastrophen, Mobbing und Selbstmord
Zunächst einmal stellte ich mir die Frage, ob Ruth Ozeki sich hier vielleicht selbst autobiografisch darstellt. Wie die Figur in »Geschichte für einen Augenblick« hat auch sie eine japanische Mutter und den entsprechenden Ehemann. Außerdem verarbeitet sie eine japanische Katastrophe, und somit stecken viele der Eindrücke mit im Buch, die das Tōhoku-Erdbeben damals auslöste (bei uns ist es eher unter dem Schlagwort »Fukushima« bekannt).
All das wusste ich allerdings noch nicht, als ich das Buch las. Erst jetzt, in der weiteren Recherche, fand ich diese Fakten heraus, die logisch erscheinen, weil in dem Buch viel Persönliches zu stecken scheint. Anscheinend ist genau das auch der Fall, sodass mein Eindruck beim Lesen bereits intuitiv richtig war.
Im Grunde findet die Schriftstellerin Ruth in »Geschichte für einen Augenblick« am Strand ein Tagebuch aus Japan. Schrittweise recherchiert sie, woher es genau stammen könnte und was es damit auf sich hat. Sie lernt das japanische Mädchen, welches das Tagebuch einst verfasste, durch die geschriebenen Zeilen besser kennen und erlebt so deren Geschichte noch einmal retrospektiv.
Naoko Yasutani, kurz Nao genannt, ist eigentlich Amerikanerin. Doch als ihr Vater, ein Programmierer, im Silicon Valley von Amerika seinen Job verliert, kehren sie in das für sie vollkommen fremde Japan zurück. Kein Wunder also, dass das Mädchen dort keinen Anschluss findet und in der Schule massiv gemobbt wird. Ihr Vater versucht währenddessen, sich umzubringen, augenscheinlich weil er seine Familie enttäuscht hat. Klar sollte aber sein, dass noch weitaus mehr hinter all dem steckt, als es zunächst den Anschein macht.
Fußnoten für Japan-Interessierte
Was »Geschichte für einen Augenblick« so überaus spannend macht, ist vorrangig, dass es um so viele Dinge gleichzeitig geht. Es geht um Ruth, die das Tagebuch findet, die in ihrem Kosmos aber ganz eigene Probleme hat. Um den Vater und seinen Selbstmord, aber ebenso um Nao, wie auch um eine Nonne, die für das junge Mädchen zu einer Art Zuflucht wird.
Spannend ist auch, dass »Geschichte für einen Augenblick« in Verweisen und Fußnoten viele japanische Geflogenheiten beiläufig erklärt. Unter anderem, was Dinge auf Japanisch bedeuten, aber auch, wie Dinge in Japan im Vergleich so sind. Selbst wissenschaftliche Fakten und Theorien, wie die Quantenmechanik, werden verständlich erläutert.
Wer Japan mag und sich für das Land, die Menschen und die Kultur interessiert, bekommt hier eine Menge beigebracht. Das fand ich als Japan-Interessierter ziemlich gelungen und habe die nebenbei erwähnten Fakten und Übersetzungen geradezu verschlungen. Wirklich toll gemacht und genau so, dass es zwar vorhanden ist, aber nie als störend empfunden wird. Ich muss dazu sagen, dass mich Fußnoten etc. für gewöhnlich schnell nerven, da sie mir immer recht ablenkend erscheinen. Hier ist das definitiv nicht der Fall. Vielleicht empfinde ich es aber auch nur so, weil ich mich eben sehr für Japan und dessen Besonderheiten interessiere.
An vielen Stellen sehr autobiografisch
Wie schon erwähnt ist vieles in »Geschichte für einen Augenblick« unweigerlich autobiografisch geprägt. Ruth und Oliver aus dem Buch scheinen Ruth Ozeki und ihrem Mann Oliver Kellhammer zu gleichen. Natürlich wird sie hier nicht eins zu eins ihr Privatleben verarbeitet haben. Dennoch hatte auch Ruth Ozeki eine Mutter, die an Alzheimer erkrankte, bevor sie starb. Genauso wie die Ruth im Buch.
Während des Lesens muss das natürlich niemand wissen. Auch ich wusste es, wie schon erwähnt, vorab nicht. Erst im Nachhinein beschäftigte ich mich mehr mit Ruth Ozeki und fand all das heraus. Anscheinend war »Geschichte für einen Augenblick« sogar schon fertig, bevor es zur Katastrophe in Japan kam. Daraufhin zog Ruth das Buch wohl noch einmal zurück und reicherte es mit persönlichen Eindrücken zur Katastrophe an. Unter anderem eben Fukushima und die weltweit spürbaren Folgen.
Damit vermischt das Buch Realität und Fiktion. Denn so real vieles in »Geschichte für einen Augenblick« zu sein scheint, so ist auch vieles eben einfach nur Teil einer Geschichte. Mir gefällt diese Mischung. Immer wieder beschreibt das Buch die Welt, wie sie ist, nur um dann wiederum eine literarische Version, eine literarische Wahrheit zu erzeugen. Das ist spannend und regt beim Lesen zum Nachdenken an.
Fazit zu »Geschichte für einen Augenblick«
Ich mochte das Buch, weil es mir viel zwischen den unterschiedlichen Kulturen vermittelt hat. So erschien es mir jedenfalls. Als ob Ruth Ozeki eine Menge von dem verarbeitet hätte, was ihr selbst in ihrer gesamten Lebenszeit begegnete. Dabei scheut sie sich nicht vor schwierigen oder kontroversen Themen, geht aber auch nie zu sehr ins Detail, sodass »Geschichte für einen Augenblick« stets genau das bleibt, nälich nur eine Geschichte für den Augenblick.
Außerdem zeigt das Buch auf, dass Selbstmord in Japan etwas anderes zu sein scheint als bei uns. Wie er Lösung und Problem zugleich sein kann. Besonders toll waren die Abschnitte, in denen ich Japanisch lernte oder mehr von den Sichtweisen dieser oft so anderen Kultur vermittelt bekam. Das, was da in dem Buch passiert, geschieht gewissermaßen in einer anderen Welt, die eigenen Regeln folgt.
Genau wie »Die leise Last der Dinge« ist mir auch »Geschichte für einen Augenblick« etwas zu lang geraten. Am Ende fehlte mir die Motivation und die letzten Seiten waren einfach mehr Zwang, um es abzuschließen, als wahrer Buchgenuss. Das ändert aber nichts daran, dass ich unglaublich viel aus »Geschichte für einen Augenblick« mitnehme. Einen Stern ziehe ich ab, denn der Lesefluss hätte stellenweise dann doch etwas besser ausfallen können. Das Buch hatte einfach einige unangenehme Längen.
Empfehlen kann ich »Geschichte für einen Augenblick« all denen, die keine Probleme mit schwierigen Themen wie Selbstmord, Mobbing und Demenz haben und die besonders an Japan, mit all den Unterschieden, interessiert sind. Für diejenigen ist das Buch ein Quell neuer Eindrücke. Das war es auch für mich.